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Ute Scheub plädiert nach schmerzhafter Vatersuche für Chancen für Täter

Sendenhorst. Er sei „an seinem Schweigen erstickt“, schreibt die Tochter über ihren Vater, der ein Nazi war und sich nie davon löste. Ihr Buch ist ein Psychogramm eines nahen, harten Fremden, den sie dafür hasste. Und damit verwoben ein Soziogramm der Verhältnisse, die zum Leiden auch der Täter beitrugen. Am Dienstagabend las Ute Scheub in Haus Siekmann, eingeladen von der VHS, aus ihrem Buch „Das falsche Leben“. Rudolf Blauth, Leiter der VHS, moderierte. Fast nur Frauen waren unter dem Dutzend Gäste; in der vertraulichen Kamin-Runde wurde offen gesprochen.

Bis auf den Großvater und dessen Weltkriegserlebnisse (die im Detail unbekannt sind) geht Scheub zurück. Aus dem Buch spricht kein Hass und kein Abrechnen, vielmehr ein Wunsch besser zu Verstehen, mehr zu erfahren und so mit sich selbst ins Reine zu kommen. Damit, so machte Scheub in Berichten von anderen Lesungen deutlich, hofft sie inzwischen auch anderen helfen zu können. Häufig löse das Wissens-Vakuum, das aus dem Verschweigen wächst, schlimmste Befürchtungen aus, belastet die Nachkommen mit Schuldgefühlen. „Kinder fühlen sehr genau, was verschwiegen wird“, meint die Berlinerin. Das Nachforschen befreie.

Über dreißig Jahre nach dem spektakulären, zum Opfer ritualisierten Selbstmord des Vaters auf einem Kirchentag 1969, in Gegenwart von Günter Grass, hat Scheub nachgeforscht, darin unterstützt von ihren Brüdern. Manches kam heraus, vieles blieb im Dunkeln: Eintritt in die NSDAP mit 18, in die Allgemeine SS mit 20, bei der Waffen-SS abgelehnt, Flak, Afrika-Corps, Partisanen-Kampf in Italien. Was genau den Vater an Kriegs-Verbrechen belastet haben könnte, ob er welche begangen hat, blieb bei der Recherche offen. Als Vater war er „peinlich“. Das Rassedenken schleppte der Apotheker mit, scheute nicht davor zurück, die eigenen Familienangehörigen in Gegenwart der Tochter für rassisch minderwertig zu erklären. Eine Aussprache blieb aus. Ihr Vater sprach nie darüber, wurde depressiv, flüchtete in wirre Texte und Selbstmord-Pläne.

Sie hat nach Zuwendung des Vaters gesucht und sie nie bekommen, diese Tochter. Später, als gestandene Journalistin, nach Aufklärung und Erklärungen gesucht. Viel hat sie auch jetzt nicht bekommen, außer wohl einer gewissen Befreiung von Last. Dem Menschen hat sie verziehen, dem Nazi ohne Mitgefühl für die Opfer nicht.

Zugleich ist das Buch ein Soziogramm. Überharte Erziehung der Jungen, nie Ausgesprochenes über die Traumata der in Stahlgewittern verheizten Männer des ersten Weltkrieges, stattdessen Dolchstoß-Legende: Das übertrug, vermutet Scheub, auch der Großvater ihrem Vater. Nach dem zweiten Weltkrieg wieder Verschweigen und Verdrängen. Wenig Chancen, offen zu sprechen. Sogar jene hielten sich mit dem Erzählen zurück, die in gefährlicher Zeit etwas Gutes taten: Man hätte in einer Gesellschaft voller Täter und Mitläufer schnell als Außenseiter dagestanden.

Scheub appelliert, Tätern in aller Welt Gelegenheit zum Sprechen und damit Verarbeiten zu geben: Damit Traumata nicht weiter erlitten und nicht weitergereicht werden, um eines Tages zu neuen Verbrechen zu führen. Die Wahrheits-Kommissionen Südafrikas sind ihr Vorbild. Ob derartiges in Deutschland möglich gewesen wäre, wird aus dem Publikum bezweifelt.

Ausgestoßensein hat Scheub als Kind in Tübingen nach dem Selbstmord des Vaters empfunden. Seine letzten Worte: „Ich provoziere jetzt und grüße meine Kameraden von der SS.“ Der einzige, der kam und mit der Familie redete, sei Günter Grass gewesen. Sein einfaches Auftreten empfindet sie heute noch als positiv. „Schockiert“ habe sie die späte Enthüllung seiner SS-Mitgliedschaft, rechnet ihm aber hoch an, er habe „als einer der ersten“ über die Kriegszeit geschrieben und gegen den Mief der 50er bis 70er Jahre gekämpft. „Ein bisschen abgestoßen“ hat sie etwas an der ersten Lesung seines neuen Buches. Die Öffentlichkeit, so Grass, habe keinen Anspruch darauf, dass er „diese kurze Zeit“ in der SS vorstelle. „Natürlich haben wir alles Recht der Welt, zu fragen und auch gute Antworten zu bekommen“, so Scheub.

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