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Meine Sprache wohnt woanders

Sendenhorst. Bedächtig und mit sparsamer Gestik trägt Lea Fleischmann am Freitagabend unter dem heimeligem Fachwerk von Haus Siekmann ihre Gedanken bei dieser fünften Veranstaltung in der Woche der Brüderlichkeit vor. Aus dem neuen Buch „Meine Sprache wohnt woanders“ liest die 1947 in Ulm geborene, 1979 nach Israel emigrierte Autorin bei strömendem Regen einer kleinen, aufmerksamen Schar vor, nachdem Nicole Deters von der Buchhandlung Ebbeke in ihre ungewöhnliche Vita einführte.

Den Bericht von einer Lesereise nutzt Fleischmann, um aus Alltagsbeobachtungen in deutschen Reisestationen, in Cafés, die Gedanken zurück zu Beobachtungen aus Israel schweifen zu lassen. Und sie vergleicht. Fluchtpunkt sind grundlegende Einstellungen zu Wichtigem, Essentiellem wie Leben und Tod und den Werten, mit denen und nach denen man lebt. Viel Prosa aus dem Alltag drängt heraus, bis dahinter Einsichten sichtbar werden.

Diese israelische Gesellschaft, die sich „im permanenten Krieg“ befindet, ist spirituell reicher, lebt Kultur intensiver, bewusster, so der Eindruck nach drei Kapiteln. Nicht alle in Israel tun es, aber doch viele, mehr als in Deutschland. Die kulturelle Vielfalt dieses Einwanderungslandes mit Säkularen und Orthodoxen, mit unterschiedlichsten Sitten der Juden aus Deutschland und Kurdistan, schätzt Fleischmann als Reichtum. Und die Demokratie, in der Minderheiten ihren rechtmäßigen Platz haben. Der Streit um Grundwerte, wie ihn Sakuläre versus Orthodoxe austragen, habe ebenfalls sein Gutes: In Israel redet man noch über Werte.

Den Sonntag nicht profanisieren

Fleischmann appelliert eindringlich an die Europäer, sich den Sonntag als freien Tag  nicht nehmen, nicht kommerziell profanisieren zu lassen. Sie schildert das aus ihren Erfahrungen mit dem Schabbat, dem Freitag. Erst als sie Telefon und vieles andere Störende, auch die Arbeit, aus diesem Tag verbannte, fand sie in der Ruhe des Schabatt ihre Mitte. Und reist sie im geschäftigen Deutschland, verliert sie diese Mitte an „das goldene Kalb“, der Schabbat rinnt ihr durch die Finger. Doch Fleischmann reist jedes Jahr zu Lesungen nach Deutschland, wo ihre Sprache wohnt.

Neben dem personlichen Erleben und Zeugnis von seelischer Ausgegleichenheit steht das Politische, dass die Fragerunde nach der Lesung prägte.

Zukunft und Politik in Israel

Eine Frau fragt, wie ihre Kinder sich denn in die israelische Gesellschaft integrieren konnten, und ein Mann mit einem kritischen Seitenblick auf die Orthodoxen fragt nach der Zukunft Israels.
Fleischmanns Wunschmodell ist ein demokratisches Palästina, das auch die Korruption in den Griff bekommt. Dort müssten auch jüdische Siedlungen existieren können, mit Juden als Staatsbürgern Palästinas, so wie auch Palästinenser in Israel leben. Das in den Medien kolportierte Bild sei verzerrt. Viele Palästinenser in Israel seien froh, in Israel in Demokratie und Sozialstaat leben zu können. Dies vor der Kamera zu sagen, könne jedoch Schwierigkeiten nach sich ziehen. So bleibe es ungesagt, unberichtet. Die Intifada? Von einem korrupten Diktator vom Zaun gebrochen, der das mit der Misswirtschaft unzufriedene Volk ablenken will. Überhaupt sei ein demokratisches Palästina eine starke Bedrohung für die arabischen Diktaturen.
Viele Sendenhorster Hörer hat Fleischmann berührt, das zeigten die Signier-Wünsche und der Dank.

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„Meine Sprache wohnt woanders. Gedanken zu Deutschland und Israel“

Lea Fleischmanns Erinnerungen reichen in die Zeit der Lager für Displaced Persons im Nachkriegsdeutschland zurück. Die Eltern, seelisch und körperlich krank, sind Holocaustüberlebende. Sie sprechen weder über die Familien noch über ihre Erlebnisse während des Krieges, aber bruchstückhaft werden Bemerkungen in den kindlichen Alltag eingestreut: „Iß die Kartoffel auf. Wegen ein paar geklauter Kartoffelschalen haben SS-Schergen Menschen im Lager umgebracht.“ Das Deutschlandbild der Eltern ist von den Konzentrationslagern und Brutalität geprägt. Als Lea Fleischmann zehn Jahre alt ist, wird die Familie nach Frankfurt am Main umgesiedelt. Nun lernt sie in der Schule und später auf der Universität ein anderes Deutschland kennen. Sie erlebt die Zeit der Studentenbewegung, ist aktiv in der Frauenbewegung und tritt in den hessischen Schuldienst ein. Ihre Erfahrungen mit dem Beamtenapparat bewegen sie Deutschland zu verlassen. 1979 wandert sie nach Israel ein und lebt seitdem in Jerusalem. Dort macht sie die Erfahrung: „Meine deutsche Staatsbürgerschaft konnte ich zurückgeben, die deutsche Sprache nicht.“

Lea Fleischmann lernt hebräisch und entdeckt den Tenach, die hebräische Bibel, und findet einen religiösen Weg. Sie beobachtet, wie Menschen in Jerusalem den Schabbat feiern und hält dies in ihren Büchern fest. Regelmäßig unternimmt sie in Deutschland Lesereisen und beobachtet dabei Land und Leute. Sie spaziert durch Frankfurt am Main und Kassel, durch Ulm und Trier und hält die Gedanken fest, die ihr in Deutschland kommen.

Chaim (Hans) Noll wurde 1954 in Ostberlin als Sohn des Schriftstellers Dieter Noll geboren. Er studierte Kunst und Kunstgeschichte an den Universitäten Jena und Berlin. Seine ersten Manuskripte wurden in den Westen geschmuggelt. 1983 reiste er nach Westberlin aus, 1991 verließ er Deutschland. Er lebt seit 1995 in Israel.

 

Auch die Kindheit von Chaim Noll in Ostberlin ist von nicht gesprochenen Worten geprägt. Seine Eltern waren Kommunisten und doch anders als die Nachbarn. Im Beisein von Fremden wurde weder über den Krieg noch über Hitler gesprochen. „Es gab also Dinge, über die man nicht sprach, Worte, die man nicht benutzte“. Fast nebenbei erfährt er, dass die Großmutter den Judenstern tragen musste und er beginnt seine jüdische Identität zu suchen. Diese Suche erweist sich als der stärkste Impuls seines Lebens. Wer ist Jude, was ist Judentum, wo kann man es finden? Sein Weg führt ihn von Ost- nach West-Berlin, von dort nach Rom, von Rom nach Israel. In Rom studiert er die antiken Wurzeln von Juden- und Christentum und beginnt die Synagoge zu besuchen. 1995 wandert Chaim Noll nach Israel ein und lebt in der Negev Wüste. Auch er findet seinen Weg ins religiöse Judentum.
Beide Autoren beschreiben den israelischen Alltag, berichten als unmittelbar Betroffene von den Terroranschlägen und stellen ihre Sicht zum Nahost-Konflikt dar.

Dieses Buch ist ein einzigartiges Zeitdokument, geschrieben von zwei Autoren aus zwei deutschen Staaten, die in Israel einen neuen spirituellen Weg gefunden haben.

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