Kirchenhistoriker warf Licht auf Wandel des Katholizismus in Münster

Münster-Wolbeck. Von einem Kirchenhistoriker einen unverstellten Blick auf die letzten 150 Jahre katholischen Lebens in Münster und damit auch in Wolbeck aufgezeigt zu bekommen, diese Aussicht hatte den Saal des Pfarrheims von St. Nikolaus am 2. Advent gut gefüllt (10.12.2006). Zwischen den Stellwänden mit Dokumenten aus Wolbeck bekamen die Neugierigen noch unverhofft einzigartige Filmaufnahmen aus dem Jahre 1935 zu sehen.

Kirchenhistoriker warf Licht auf Wandel des Katholizismus in Münster 1Pfarrer Dr. Siegfried Kleymann hatte Professor Wilhelm Damberg eingeladen, den Inhaber des Lehrstuhls für Kirchengeschichte des Mittelalters und der Neuzeit an der Universität Bochum. Ihn hatte er schon als Student kennen gelernt, als Damberg noch Assistent war.

Sehr lebendig und mit augenscheinlicher Freude am Vermitteln von Zusammenhängen und auch am Entdecken von Neuem führte Damberg „mit Sieben-Meilen-Stiefeln“ vom Kaiserreich zur Weimarer Republik und vom Nationalsozialismus bis heute. Mehrfach nahm er Bezug auf die Wolbecker Ausstellung, von der er sich beeindruckt zeigte: Das habe er „so noch nirgendwo gesehen“. Viele Wolbecker Bilder und Daten bekamen nun Sinn. So standen hinter den vielen Vereins-Gründungen des 19. Jahrhunderts Industrialisierung, Verstädterung und eine Bevölkerungsexplosion. Die Zahl der geistlichen Betreuer hielt damit nicht Schritt. Eine Fülle spezieller Vereine entstand – für Gesellen und für Lehrlinge, für Frauen und für Männer, für Arbeiter und für Arbeiterinnen. Ein ganz besonderer Verein mit einem „Rundum-Sorglos-Paket“ war die Kolpingsfamilie: Arbeitsvermittlung, Fortbildung, Bibliothek, Freizeit und Kultur, alles gab es hier. Sogar protestantische Mitglieder und in Münster auch ein jüdisches, berichtete der Professor.

In Wolbeck vollzog sich mancher Wandel später. Die Bewegung „Los von Rom“, die in Wolbeck an der Wende zum 20. Jahrhundert in eine längere Auseinandersetzung mit dem Pfarrer mündete und mit List und Paragrafen ausgetragen wurde, war typisch. Aber andernorts habe sie schon um 1860 stattgefunden.

Eine Überraschung boten Filmaufnahmen von der Prozession des Jahres 1935 in Münster. Hier, am Tag nach einem Großaufgebot an „braunem Popanz“, zeigte der Katholizismus des Münsterlandes noch einmal Flagge. In endlosen Reihen zeigte sich die Vielfalt und Breite der katholischen Vereine und Verbände. Und zum Schluss ist das Kreuz aus St. Nikolaus zu sehen, das von Vertretern Wolbecks durch die Straßen Münsters getragen wird. Die entsprechenden Fotos sind Teil der Ausstellung in Wolbeck und bis Ende Dezember zu sehen. Damberg zeigte sich erfreut, nun zu wissen, woher dieses Kreuz kam.

Überraschend kam die Analyse Dambergs, dass der nationalsozialistische Anspruch auf Alleinherrschaft und der kirchliche auf engere Bindung der Laien-Vereine in die gleiche Richtung wirkten, nämlich zu Lasten der ungebundenen Vereine. Nach dem Kriege mussten sich zum Beispiel Kolpingbrüder gegen eine Auflösung wehren.

„Pfarrgemeinde“ – dieser heute selbstverständliche Begriff stieß einst auf Widerspruch: Er galt vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil, 1962 bis 1965, noch als „protestantisch“.

Dem scharfen Rückblick gewann Damberg einigen Optimismus für die Zukunft ab. Die Verwerfungen des 19. Jahrhunderts „stecken das, was wir heute erleben, locker in die Tasche“. Der „Erfindungsreichtum des Volkes Gottes“ sei groß, es organisiere sich selbst in seinem Umfeld. Das kirchliche System sei immer dann stark, wenn es sich nicht mit einem Staat verwechsele und stattdessen der Flexibilität vor Ort Raum einräume. Die Fragen aus dem Publikum galten dem plötzlichen Entstehen so vieler Vereine, Wirkungen des Kulturkampfes sowie dem Umgang mit Flüchtlingen nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Verhältnis von Katholiken und Juden. „Wir wissen darüber kaum etwas, und das ist vielleicht schon die Antwort“, sagte Damberg zum Verhältnis zu den Juden. Der Katholizismus sei sehr „introvertiert“ gewesen; mit dem Judentum habe man sich kaum befasst. Dass Jesus ein Jude war, hätten erst die Nationalsozialisten vielen deutlich gemacht.

Als Kind habe sie nicht mit Protestanten spielen dürfen, erinnerte sich eine Frau. Damberg erläuterte, das sei noch in der Periode der „geordneten Schlachtreihe“ gewesen.

Kaum eine Antwort blieb der Professor schuldig. Das Entstehen von Pfarrfesten sei allerdings ein unerforschtes Gebiet, sagte Damberg.