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Eröffnung der Ausstellung „Vergessenen begegnen – NS-Opfer aus dem Münsterland“

Montag, 30. Mai, 17 Uhr

Bürgerhalle der Bezirksregierung Münster

Domplatz 1-3

Die Ausstellung „Vergessenen begegnen – NS-Opfer aus dem Münsterland“ wird am Montag, 30. Mai, 17 Uhr von der Schirmherrin, Regierungspräsidentin Dorothee Feller, in der Bezirksregierung Münster eröffnet. Gestaltet und konzipiert wurde sie von Studierenden der Fachhochschule Münster für Design unter Leitung von Professorin Claudia Grönebaum. Die Studienabsolventinnen und -absolventen haben in ihrem letzten Studienjahr 2021/22 eine herausragende Arbeit für Kommunikationsdesign im Raum entwickelt.

„Ihr Thema war die Ausstellungsgestaltung in Form eines Informations- und Orientierungssystems zur Geschichte“, so Ausstellungsinitiator Peter Schilling.  Sie führen durch verschiedene Ausstellungsstationen in ein oft vergessenes Kapitel der NS-Geschichte. Was passierte mit weniger bekannten Opfergruppen unter dem Hakenkreuz in Münster? Zum Beispiel mit Anna Lübke. Die Münsteraner Sinti-Familie Lübke verlor fünf Familienmitglieder, die als sogenannte „Zigeuner“ von den Nationalsozialisten verfolgt wurden. So wurde Anna Lübke, geboren 1879, 1943 im Vernichtungs- und Konzentrationslager Auschwitz ermordet, ihr erwachsener Sohn Wilhelm, geboren 1915, kam schon 1940 ins KZ Sachsenhausen und war dort 1942 umgebracht worden. Ein Onkel, der das Lager Auschwitz überlebt hat, nahm den Enkel der Familie, Horst Lübke, später als Kind mit zum Schrott sammeln. Er hatte große Angst vor der Polizei. Lübke, dessen Mutter Franziska nur durch einen Zufall vor der Deportation fliehen konnte – sie stand nicht auf der polizeilichen Liste – und untertauchte, wurde für das Ausstellungsprojekt für die Hörstationen interviewt.

Am 16. Dezember 1942 verfügte Heinrich Himmler die Deportation aller Sinti und Roma im deutschen Einflussgebiet nach Auschwitz („Auschwitz-Erlass“), um sie als Minderheit komplett zu vernichten. Wegen der unzähligen Erlasse, Bestimmungen und Gesetze der Nazis zur Ausgrenzung, Inhaftierung und Ermordung sind Schubladen mit Karteikarten in überdimensionalen Aktenschränken wichtige Informationsträger der Ausstellung. Von der Decke hängen Fahnen für jedes der vorgestellten persönlichen Schicksale über einem Schreibtisch mit einer Glasplatte, unter der persönliche Andenken und Erinnerungen sichtbar werden, und darauf ausliegende Mappen bieten Anhaltspunkte zu den Personen: Die Faktenlage war nicht für alle dargestellten Opfer leicht zu ermitteln. Das haben auch die Schülerinnen und Schüler der Gesamtschule Münster Mitte erfahren, die eine 112-seitige Broschüre mit dem Titel „Vergessenen begegnen“ über die gesellschaftlichen und politischen Hintergründe der Verfolgung weit über die dargestellten Einzelschicksale hinaus erstellt haben.

„Kann bei einer Ausstellung über den Nationalsozialismus überhaupt noch etwas Neues gezeigt werden?“ Diese Frage konnten die Lehrkräfte Julia Börger und Dirk Männicke mit ihrem Geschichts-Zusatzkurs des Abiturjahrgang 2022 ganz konkret beantworten. Sie stellen in einer Lesung von Gedenkblättern am 14. Juni, 19 Uhr, im Geschichtsort Villa ten Hompel auch die Geschichte der beiden deportierten Familien Wagner aus dem Kuhviertel vor. Das Oberhaupt der Familien, Mathilde Wagner, hatte sich entschieden, zwei ihrer Söhne mit ihren Familien und die mit Zwillingen schwangere Schwiegertochter Hulda zu begleiten. Im März 1943 wurden 15 Personen der Wagners ins „Zigeunerlager“ Ausschwitz-Birkenau gebracht und vernichtet.

Im Nationalsozialismus wurden Menschen nicht nur aus rassischen Gründen, sondern auch als sogenannte „Asoziale“ verfolgt und getötet. Zumeist fielen im Nationalsozialismus Menschen aus sozialen Minderheiten und Randgruppen darunter. Dazu gehörten auch Wanderarbeiter, Erwerbslose, angeblich Arbeitsscheue, Suchtkranke, aber auch kinderreiche Familien aus den sozialen Unterschichten, selbstverschuldete sogenannte „Fürsorgeempfänger“, Homosexuelle oder sogenannte „Volkschädlinge“. Jeder, der von der sozialen Norm der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ abwich, konnte ausgegliedert, zwangssterilisiert, verurteilt, inhaftiert, getötet werden. „Wehrunwürdige“, „Wehrkraftzersetzer“ und politische Widerständler wurden verfolgt, inhaftiert und hingerichtet. Arnold Münster, der Sohn des Landgerichtspräsidenten Rudolf Münster, der am 1. Oktober 1918 nach Münster berufen worden war, hatte sich in den Dreißigerjahren einer kleinen Widerstandsgruppe im westfälischen Münster angeschlossen.Als Verantwortlicher für Flugblätter, die sich gegen das „Dritte Reich“ richteten, wurde er als Hochverräter verurteilt und in Münsters Zuchthaus an der Gartenstraße inhaftiert. Er war acht Jahre der Willkür des Anstaltsleiters ausgeliefert und im Jahr 1944 dem Bewährungsbataillon 999 zugewiesen worden, als qualifizierter Wissenschaftler vom Reichsführer SS Heinrich Himmler begnadigt.

Psychisch Kranke und Menschen mit Behinderungen fielen der Euthanasie zum Opfer. Irmgard Heiss, eine Außenseiterin in der Familie in Detmold erlebte in der Großstadt Berlin der Zwanzigerjahre die extremen politischen und gesellschaftlichen Veränderungen. Hier heiratete sie, trennte sich von ihrem Mann und ihren drei Kindern 1923/24. Dann begann für sie nach unterschiedlichen Diagnosen und Behandlungsformen in Heil-und Pflegeanstalten ein trauriger Weg bis zu ihrem Tod 1944. Als schwer erziehbar, “fortpflanzungsgefährlich“ wird sie in den Krankenakten beschrieben. “Minderwertig“ – das Urteil der NS-Mediziner.

Fritz-Robert Ripperger, geboren 1906, verbrachte die ersten sechs Jahre seines Lebens in Münster, wurde später Kaufmann, zog nach Berlin. Dort sah er die Möglichkeit, als Homosexueller unentdeckt zu bleiben. Trotzdem erhielt er Vorstrafen wegen unbefugten Waffenbesitzes und seiner Homosexualität. Als Schutzhäftling saß er seit Mai 1942 im Gefängnis in Spandau ein, wurde nach Buchenwald und ins KZ Dachau deportiert, wo er am 4.10.1942 den Lagerbedingungen erlag.

Die Münsteranerin Wilma Hesselink hatte als Leiterin der Ausgabe von Lebensmittelkarten, Bezugsscheinen, Kleider- und Raucherkarten Unterschlagung begangen. Sie wurde als „Volksschädling“ von einem Sondergericht in Bielefeld zum Tode verurteilt und mit 31 Jahren am 17. Mai 1943 hingerichtet. Dies sind nur einige der Beispiele persönlicher Schicksale in der Ausstellung „Vergessenen begegnen“.

Die Ausstellung ist nach der Verlegung der Stolpersteine für jüdische Opfer, für Sintifamilien und Euthanasieopfer der NS-Gewaltherrschaft in Münster, ein letztes großes Anliegen des Wolbeckers Peter Schilling. Im Februar 2020 stimmte der Bundestag einem Antrag zu, der Menschen, die im Nationalsozialismus als sogenannte „Asoziale“ oder „Berufsverbrecher“ verfolgt und in Konzentrationslager verschleppt wurden, auch endlich als „Opfer des nationalsozialistischen Unrechtssystems“ anzuerkennen und verstärkt in die Erinnerung und das öffentliche Gedenken einzubeziehen. Dazu stellte er einen Bürgerantrag an den Rat der Stadt Münster, der in eine seit Herbst begonnene wissenschaftliche Forschungsarbeit im münsterischen Stadtarchiv mündete. Die aktuelle Ausstellung „Vergessenen begegnen“ nimmt keine Ergebnisse vorweg, will aber für das Thema sensibilisieren,  besonders Schulklassen und Menschen aus dem Münsterland, die nach Spuren in ihren Familien suchen.

Nicht nur die Verfolgung von Homosexuellen nach dem Paragraphen 175 hielt noch nach dem 2. Weltkrieg an. Die Bundesrepublik Deutschland hielt zwei Jahrzehnte lang an den Fassungen der §§ 175 und 175a aus der Zeit des Nationalsozialismus fest. 1969 kam es zu einer ersten, 1973 zu einer zweiten Reform. Erst mit Wirkung vom 1. Juli 1989 wurde dieser Paragraph ersatzlos gestrichen. Der Bezug der Ausstellung bis in die Gegenwart ist Peter Schilling wichtig.

Von einer gesellschaftlichen und politischen Anerkennung als Verfolgte waren viele Gruppen jahrzehntelang ausgeschlossen, wie die im Dritten Reich verbotenen Zeugen Jehovas, die den Dienst an der Waffe verweigerten, aber auch die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. Ihre Inhaftierung bis zur Tötung galt nicht als nationalsozialistisches Unrecht, und sie wurden hierfür lange nicht entschädigt. In einem Begleitprogramm zur Ausstellung stellen Nachfahren wie der ehemalige FAZ-Redakteur und Frankfurter Pressesprecher Nikolaus Münster das Schicksal seines Vaters, des Chemikers Arnold Münster vor (2. Juni, 19 Uhr, Villa ten Hompel) oder Barbara Stellbrink-Kesy, die Großnichte von Irmgard Heiss, ihre Großtante (8. Juni, 19 Uhr, Bezirksregierung, Saal 1). Die Lesung der Gedenkblätter aus dem Jahr 2021-22 am 14. Juni, um 19 Uhr, in der Villa ten Hompel schließt das Begleitprogramm ab.

Die Ausstellung ist Ergebnis einer umfassenden Zusammenarbeit der Fachhochschule für Design mit dem Verein Spuren finden e. V. und der Bezirksregierung Münster. Sie ist bereits im Februar erstmals für wenige Tage aufgestellt worden, um den Gesamtaufbau zu überprüfen, war aber wegen der Corona-Pandemie nicht für ein größeres Publikum zugänglich. Der Aufbau wird auch zum zweiten Mal gelingen, da ist sich Peter Schilling sicher. Die Ausstellung ist vom 31. Mai bis 17. Juni montags bis freitags von 8 Uhr bis 16 Uhr zu sehen. Etwa einstündige Führungen, insbesondere für Schulklassen, können mit Peter Schilling vereinbart werden. Anfragen per E-Mail unter pmschilling@t-online.de.

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