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Der Steinmeier-Eklat – eine Erklärung in zwei Szenarien

Zur Frage deutscher Waffenlieferungen an die Ukraine

Was hat die ukrainische Regierung im April 2022 bewogen, das deutsche Staatsoberhaupt jetzt nicht willkommen zu heißen?

Die Ukraine will den Druck auf alle potentiell schwere Waffen liefernden Länder aufrechterhalten, solche und andere Ausrüstung zügig zu liefern: Das ist die Hypothese dieser Überlegungen. Sie würde die Absage an den Bundespräsidenten hinreichend erklären.

Hintergrund der Mitte April 2022 beabsichtigten Reise des deutschen Staatsoberhaupts, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, ist ein Verhalten des Bundeskanzlers, das zurückhaltend ist mit solchen Zusagen und darin von der Politik westlicher Partner abweicht. Diese Partner, nicht nur die USA, sondern auch Großbritannien, erscheinen als deutlich eher bereit zu handeln und handeln auch. Ein Beispiel die Zusage der USA, Raketen an die Ukraine zu liefern, die gegnerische Kräfte zur See angreifen können. An solchen Antischiff-Raketen ist im Politischen besonders wichtig, dass damit ein Waffensystem versenkt werden kann, dass zum einen die Sicherheitslage der Ukraine strategisch verbessern würde und zum zweiten wäre diese Vernichtung stärker öffentlichkeitswirksam als das Zerstören eines einzelnen Panzers. Damit würde auch der Lieferant einer solchen Waffe stärker im Licht der Öffentlichkeit stehen, was unter anderem bedeutet, den Zorn der russischen Staatsspitze auf sich zu ziehen. Damit ist die Lieferung eines solchen Waffensystems von Bedeutung strategisch für die militärische Lage in der Ukraine, für die Aussichten im Krieg, für die Innenpolitik in Russland und für die Beziehungen zwischen dem Aggressor und den USA. Sie ist insofern heikel – dennoch haben die USA zugesagt.

Der Kontrast zum Verhalten des Kanzleramts sticht ins Auge.

Es häufen sich die Stimmen, die die Zurückhaltung des Bundeskanzlers nicht mehr erklären können.  Das gilt für die Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses des Bundestages, Agnes etc. Und andere in der Regierungskoalition (Spiegel 2022b, 2022c; Deutschlandfunk.de 2022; Pawlitzki 2022). Der Dissens innerhalb der Koalition zwischen FDP, Grünen und SPD wächst.#

„Auf die Frage, ob im Kanzleramt ein Zauderer sitze, antwortete Strack-Zimmermann mit „Ja“.“ (Deutschlandfunk.de 2022)

Im Sinkflug war auch das Ansehen der Bundesregierung bei ihren westlichen Partnern, so eine Aussage des Vorsitzenden des Europaausschusses im Bundestag, Anton Hofreiter (Spiegel 2022a).

Ins Feld geführt wird von Regierungsseite, dass schwere Waffensysteme zugleich komplexe Systeme sein, die Ausbildung benötigen. Wäre dies unbestritten ist, kann man ebenso fragen, warum dann nicht frühzeitig mit einer solchen Ausbildung begonnen wird. Der Krieg geht in seinen 50. Tag. In der Ausbildung des Leopard 1 liegt viel Erfahrung vor – er wurde über viele Jahre hinweg in ausländische Armeen exportiert und dort eingeführt.  Dass die ukrainischen Soldaten motiviert sind, eine solche Ausbildung intensiv voranzutreiben, dürfte außer Frage stehen. Viele von ihnen sind auch keine Neulinge, die zum ersten Mal an einem solchen Waffensystem ausgebildet werden. Das ist weniger für die genaue Bedienung im Detail wichtig als für das Verständnis, wie diese Systeme taktisch anzusetzen sind. Erfahrung im Kampf liegt vielfach bereits vor. Und selbst wenn die Ausbildung genauso lange dauern würde wie für Soldaten der Bundeswehr, spreche dies eher dafür, dies zu Sicherheit bereits anlaufen zu lassen. Sei es nur um Erfahrung zu gewinnen und eine realistische Vorstellung von der Dauer einer solchen Eil-Ausbildung zu gewinnen.

Kurz gesagt, der gute Wille Berlins ist infrage gestellt.

In dieser Lage bahnt sich ein Besuch des deutschen Staatsoberhauptes in Kiew an und scheitert. Der vage Ausdruck „anbahnen“ und „Scheitern“, ohne Nennung von Verantwortlichen, ist hier Absicht, denn beide Vorgänge liegen im Dunkeln. Es soll keine offizielle Anfrage seitens der Bundesrepublik in Kiew gegeben haben, ebenso ist unklar, welches Signal aus Kiew Richtung Bundespräsident ging. Wie dem auch sei, eine negative Reaktion der Ukraine darf man als gegeben annehmen.

Szenarien „Besuch/Empfang“ versus „Absage“

Nun lassen sich die beiden Szenarien durchspielen, „Besuchen/Empfang“ versus „Absage“ des Bundespräsidenten.

Szenario Besuch: niemand erwartete, dass Steinmeier eine Zusage mitbringen würde. Die militärische Lage hätte dieser Besuch insofern auch perspektivisch nicht verändert. Ebenso wenig wäre dies ein Signal Richtung Moskau gewesen, dass dieser Krieg für die russische Seite aussichtslos und noch kostspieliger würde. Die Ukraine hätte einen in dieser Frage unwilligen Partner öffentlichkeitswirksam wieder verabschieden müssen. Steinmeier hätte Seite an Seite mit den Repräsentanten anderer Staaten, Polens und der baltischen Staaten, auftreten können. Er wäre insofern aus der isolierten Position herausgekommen, ohne dafür in der Substanz etwas zu tun. Nicht nur das, er hätte im Blick auf die deutsche Gesellschaft wohl den Druck auf die Regierungskoalition bzw. den Bundeskanzler gesenkt, ihre bzw. Scholz Position zu ändern. Insofern konnte man erwarten, dass Scholz hier Zeit gewinnt, dass vor allem die Ukraine in ihrer gefährlichen und zeitkritischen Lage nicht vorwärtskommt.

Szenario Absage: Ein Eklat im Fall einer Absage war vorhersehbar, und natürlich ein Eklat, über den in Deutschland breit berichtet und auch diskutiert würde. Dies würde auch grelles Licht auf den Dissens in der Koalition werfen und damit auf die Position des Bundeskanzlers. Dieser würde verstärkt unter Druck geraten, seine Position darzulegen und zu begründen. Dies war bislang nicht geschehen. Würde eine Absage die deutsche Bereitschaft zur Unterstützung für die Ukraine in all ihren Dimensionen beschädigen? Die Positionen in der Koalition und das breite Befürworten von Hilfe in der deutschen Gesellschaft lassen das als unwahrscheinlich erscheinen. Eher konnte man einen verstärkten Druck dieser Akteure auf den Bundeskanzler erwarten. Gleiches gilt für die westlichen Partner Deutschlands.

Resümierend dürfte das Szenario „Absage“ den Druck auf das Kanzleramt verstärken, die innenpolitische Dynamik in Deutschland zugunsten der ukrainischen wirken lassen. Im Szenario „Empfang“ dagegen wäre der Druck auf das Kanzleramt reduziert.

Überlegungen dieser Art sind eine hinreichende Begründung dafür, die Option „Absage“ zu wählen.

Weitere kommen hinzu: Sie liegen in der Person und Vorgeschichte des Bundespräsidenten. Er war als Außenminister für die Entwicklung der Abhängigkeitsstrukturen zwischen Deutschland und Russland mitverantwortlich.

Hinhalte-Taktik im Windschatten der Partner versucht?

Weitere kommen hinzu: Sie liegen in der Person und Vorgeschichte des Bundespräsidenten. Er war als Außenminister und Chef des Kanzleramtes für die Entwicklung der Abhängigkeitsstrukturen zwischen Deutschland und Russland mitverantwortlich. Er prägte auch das Festhalten an der Gas-Pipeline Nordstream 2 mit – womit Deutschland in mehrjährigen Konflikt geriet zu den Positionen u.a. der westeuropäischen Partner. Insofern wäre es eine nur zum Schein harmonische Gruppe gewesen, wenn Steinmeier wie die Vertreter Polens und der baltischen Staaten gemeinsam nach Kiew gereist und dort als Gruppe aufgetreten wären. Steinmeier wäre eben kein Mitglied wie jedes andere dieser Gruppe gewesen. Was das Auftreten als Gruppe vermutlich kaum erlaubt hätte, wäre ein bilaterales offenes Gespräch zwischen Selenskyj und Steinmeier gewesen. Womöglich wollte man in Berlin genau ein solches Gespräch auch vermeiden, im Windschatten der anderen Teilnehmer. Dass Kiew ein solches Gespräch sucht, machte die ukrainische Note an die deutsche Botschaft in Kiew deutlich: Man halte, hieß es sinngemäß, ein bilaterales Treffen für angemessener. Eine solche Ansicht könnten auch die anderen Gruppenteilnehmer teilen – es ist nicht bekannt, dass sie zugunsten von Steinmeiers Teilnahme interveniert hätten.

Insofern ist hier eine deutsche Taktik des Hinhaltens im Windschatten von Pseudo-Einigkeit von einem vom breitem Konsens in Westeuropa abweichenden Staat versucht worden und öffentlichkeitswirksam als Eklat gescheitert.

Kanzleramt: Situation und Optionen

Die Situation des Kanzleramts und seine Optionen in der Frage der Lieferung „schwerer Waffen“ stellen sich nun so dar: es muss den Druck durch vernünftiges Handeln senken, ohne überzogene Erwartungen zu wecken.

Eine großzügige Zusage, verbindlich, in ihren Grenzen erläutert, die einen Unterschied macht, würde den Knoten zerschlagen. Vielleicht wird dies das Resultat schon länger laufender Prozesse im Kanzleramt und den Fachressorts, den Ministerien für Verteidigung und Wirtschaft, sein.

Auf der Ebene der Ausrüstung könnten dies auch Panzerhaubitzen sein. Aus mehreren Gründen liegt es für Berlin nahe, erhebliche finanzielle Zusagen zu machen. Die Rede von konkretem Gerät ist heikel bei dem Anliegen, Komplikationen mit Moskau zu vermeiden. Es wäre zudem erklärungsbedürftig, nach längerer Nicht-Entscheidung unvermittelt doch konkretes Gerät als verfügbar und sinnvoll zu benennen. Wobei hier wohl gilt: Je länger man braucht, um politisch korrektes Gerät zuzusagen (insbesondere: länger braucht als andere), desto problematischer macht man es – als sei eine negative Reaktion Moskaus argumentativ womöglich legitim. Berechtigt erscheinen können wohl eher Aussagen darüber, ob angesichts des Ausbildungsbedarfs das Gerät in angemessenen Zeiträumen Nutzen entfalten kann. Eine frühe prinzipielle Zusage wäre insofern eher ratsam.

Wohin führt vorwegnehmende Rücksicht auf Moskauer Reaktionen?

Machte man sich abhängig von Moskauer Reaktionen, würde dies schnell auf folgende Verkettung hinauslaufen: Geliefert wird an die Ukraine nur, was Moskaus Absichten nicht wirklich schadet – denn darauf würde der Aggressor in Moskau ja negativ reagieren. So, wenn man nur wenig Wirksames liefert, würde man zwangsläufig a) den Krieg verlängern und b) dem Aggressor in die Hände arbeiten und c) die eigene Legitimität zerstören.

Literaturverzeichnis

Deutschlandfunk.de (2022): Waffenlieferungen an Ukraine – Strack-Zimmermann (FDP) kritisiert zögerliche Haltung des Kanzlers. Deutschlandfunk.de. Online verfügbar unter https://www.deutschlandfunk.de/strack-zimmermann-kritisiert-scholz-in-diskussion-um-waffenlieferungen-an-die-ukraine-100.html, zuletzt aktualisiert am 15.04.2022, zuletzt geprüft am 15.04.2022.

Pawlitzki, Helene (2022): Ukraine-Krieg: Marie-Agnes Strack-Zimmermann fordert Waffenlieferungen von Olaf Scholz. In: RP ONLINE, 14.04.2022. Online verfügbar unter https://rp-online.de/politik/ausland/ukraine-krieg-marie-agnes-strack-zimmermann-fordert-waffenlieferungen-von-olaf-scholz_aid-68060065#successLogin, zuletzt geprüft am 15.04.2022.

Spiegel, Der (2022a): Hofreiter kritisiert Ukrainepolitik von Scholz: »Das Problem ist im Kanzleramt«. In: Der Spiegel, 14.04.2022. Online verfügbar unter https://www.spiegel.de/politik/deutschland/ukraine-marie-agnes-strack-zimmermann-und-anton-hofreiter-fordern-fuehrung-von-kanzler-scholz-a-c672d96b-078d-4ae2-a8e5-1af86eee0831, zuletzt geprüft am 15.04.2022.

Spiegel, Der (2022b): Hofreiter kritisiert Ukrainepolitik von Scholz: »Das Problem ist im Kanzleramt«. In: Der Spiegel, 14.04.2022. Online verfügbar unter https://www.spiegel.de/politik/deutschland/ukraine-marie-agnes-strack-zimmermann-und-anton-hofreiter-fordern-fuehrung-von-kanzler-scholz-a-c672d96b-078d-4ae2-a8e5-1af86eee0831, zuletzt geprüft am 15.04.2022.

Spiegel, Der (2022c): »Starres Weltbild«: Strack-Zimmermann kontert Mützenich im Streit über Waffenlieferungen. In: Der Spiegel, 15.04.2022. Online verfügbar unter https://www.spiegel.de/politik/russland-ukraine-krieg-marie-agnes-strack-zimmermann-kritisiert-rolf-muetzenich-a-76eb4adb-9f54-4062-a844-0e17de11bff8, zuletzt geprüft am 15.04.2022.

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